Von der Arbeit

Oder: Neue Bewertungen braucht das Land

Was ist eigentlich Arbeit? Diese Frage stelle ich mir regelmäßig und seit ich selbständig bin noch viel öfter. Arbeit hat viele Gesichter: Sie kann Mühsal sein, Gelderwerb, Maloche und muss ja, sie kann Hausarbeit sein, ehrenamtliche Arbeit, Care-Arbeit, Pflicht, Selbsterfahrung, Berufung oder sogar Befreiung – halt New Work. Wer keine Arbeit hat, wird gesellschaftlich stigmatisiert und fühlt sich auch selbst schlecht. Arbeit ist ein essentieller Teil des Menschseins.

Ich erinnere mich noch gut an meine erste selbständige Woche im Sommer 2019. Täglich saß ich viele Stunden an meinem Schreibtisch, schrieb E-Mails, erstellte Teilnehmerunterlagen, telefonierte, konzipierte, controllte… und hatte doch nie das Gefühl, dass das jetzt wirklich Arbeit ist. Denn es gab ja kein Geld dafür. Nur an den Tagen, an denen ich Trainings durchführte, an denen ich mit einem Coachee arbeitete und anschließend eine Rechnung schreiben konnte, fühlte es sich wie „wirkliche Arbeit“ an.


In dieser ersten Woche hörte ich fast in Dauerschleife das Lied Ode an die Arbeit der Band Wir sind Helden. Am meisten gefiel mir der regelmäßige Einwurf: Du bist Preußen! Ja, ich war Preußen – und wie ich es war. Der kleine Preuße in meinem inneren Team war regelmäßig am Start, kommentierte und bewertete, was ich tagtäglich so tat. Sehr kritisch war der innere Preuße insbesondere mit positiven Gefühlen oder gar Entspannung. Wenn ich beispielsweise ein Buch las (wohlgemerkt: Fachliteratur) blickte er mich kritisch an und flüsterte mir ins Ohr, ob das jetzt wirklich in Ordnung sei oder ich meine Zeit nicht eher mit etwas Nützlichem verbringen sollte.

Häufig fragte ich mich am Ende des Tages, was ich denn heute eigentlich geschafft hatte. Bei Tagen mit Aufträgen war das einfach (Geld verdient!) – an anderen Tagen eher nicht so leicht zu beantworten. In diesen ersten Wochen dachte ich auch öfter darüber nach, wie effizient ich eigentlich in meiner Angestellten-Arbeit war. Und kam ziemlich schnell zu dem Schluss, dass ich auf der „richtigen Arbeit“ auch nicht 8 Stunden am Stück Mehrwert produziert hatte. Da gab es Gespräche im Flur, Teamsitzungen, das etwas längere Telefonat, den Plausch mit den KollegInnen zwischendurch. All dies fällt in der selbständigen Arbeit weg und baute bei mir einen inneren Druck auf, meine Zeit doch jetzt wirklich effizient und effektiv zu nutzen.

Der innere Preuße ist mächtig. Er hat eine lange Geschichte hinter sich und mächtige Verbündete im inneren und äußeren System. Fast alle Ansätze des Zeitmanagements spielen ihm in die Hände und unterstützen ihn in seinem Walten. Sein Gegenspieler – die Muße, il dolce far niente – bemüht sich zwar, immer mal wieder in den Vordergrund zu treten, aber so leicht gibt sich der innere Preuße in unseren Breitengraden zu Zeiten der Leistungsgesellschaft nicht geschlagen.

 

Arbeit in Deutschland ist die Arbeit des inneren Preußen. Dieses Bild limitiert die Möglichkeiten und die Wertschätzung, die wir aller Arbeit entgegenbringen sollten. Denn Arbeit ist nicht nur das, was der innere Preuße als Arbeit bewertet. Dies wird insbesondere deutlich am Beispiel der Care-Arbeit. Care-Arbeit oder reproduktive Arbeit, das alles, was es braucht, damit unser gesellschaftliches System gut funktioniert und aufrechterhalten wird: Putzen, kochen, Kinder versorgen, Alte versorgen, Wäsche waschen, Wäsche aufhängen, Wäsche zusammennehmen, Wäsche wegräumen und so weiter und so fort. Diese essentielle Arbeit bewertet der innere Preuße natürlich auch nicht als wirkliche Arbeit, weil: Kein Geld verdient! Delikat an der Care-Arbeit ist, dass sie immer noch zu einem Großteil von den Frauen dieser Welt erledigt wird – und der Zeitanteil umso größer wird, sobald sie ein Kind bekommen (oder die Care-Arbeit wird an andere Frauen, häufig weniger privilegiert, ausgelagert).


Ich denke, dass in den großen Transformationsprozessen unserer Zeit, der Blick auf die Arbeit zentral sein wird. Die Frage Was ist eigentlich Arbeit? ist nicht mehr so leicht zu beantworten, wie sie es noch vor 50 Jahren war: der demografische Wandel, die Digitalisierung, der Gesundheitszustand unserer Gesellschaft (Stichwort: Burnout) und vor allem der Klimawandel mit der Aufforderung zu einer nachhaltigen Ressourcenorientierung und mehr Gemeinwohl werden unseren Arbeitsbegriff radikal durchschütteln. Wir brauchen neue Konzepte, neue Bewertungen, Wertschätzungen und eine neue Aufteilung. Nur so werden wir den Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam begegnen können.

 

Also innerer Preuße: Zieh dich warm an! Das Kaiserreich ist schon lange Geschichte.

(geschrieben im Juli 2020)

Zum Weiterlesen und Weiterhören:

Der Song zum Text: [Ode] An Die Arbeit von der Band Wir sind Helden


Ein etwas anderer Blick auf Arbeit, inspiriert von Frithjof Bergmanns Konzept der New Work: Markus Väth: Arbeit - Die schönste Nebensache der Welt


Ein Blick auf die Care-Arbeit: Eine kritische Analyse von Teresa Bücker in der Süddeutschen


Und zum Schluss der wunderbare Artikel von Antonia Baum zur Aufteilung von Arbeit in Zeiten der Corona-Krise: Hannelore radikalisiert sich



Kleiner Werbeblock am Rande

Vermutlich habe nicht nur ich einen inneren Preußen vorzuweisen. Wer einen Blick in sein eigenes inneres Team werfen möchte, kann sich gerne bei mir für ein Coaching melden. In diesem Rahmen erkunden wir, welche inneren Stimmen dich leiten, wer laut im Vordergrund schreit und wer im Keller auf Gehör wartet mit dem Ziel einer ausgeglichenen inneren Teamentwicklung.