Von New Work

Oder: Lieber Begriff – Was ist nur aus dir geworden?

Als ich das erste Mal wirklich von New Work las, war ich mit Interrail in Spanien unterwegs – im Oktober 2017. In einem Hotelzimmer in Madrid stolperte ich über den Wikipedia-Eintrag zum Thema New Work. Bis dahin hatte ich gedacht, New Work sei nur wieder irgend so ein Industrie 4.0 und Digitalisierungshype-Begriff – ein cooles Wort für Kicker und Co im Arbeitskontext. Wie überrascht war ich, als ich dann las, dass New Work als Ansatz des österreichisch-US-amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann eigentlich für die Revolution gedacht war: Für eine radikale Veränderung des Lohnarbeitssystems, mit dem Ziel aus dem Zug auszusteigen, der uns alle mit Höchstgeschwindigkeit in den Abgrund fährt.

 

Bergmanns Konzept, das er in seinem Buch Neue Arbeit – neue Kultur beschreibt, fokussiert auf drei zentrale Bereiche, die genutzt werden können, um einen Wandel des Lohnarbeitssystems möglich zu machen:

  1. Reduzierung der Lohnarbeitszeit (auf 1 – 2 Tage pro Woche)
  2. Aufbau von High-Tech-Eigen-Produktion
  3. Das zu tun, was man wirklich wirklich tun möchte

Mit dem oben genannten Bild des Zuges beschreibt Bergmann den aktuellen Zustand des Wirtschaftssystems, der sich für ihn auch aus dem Zusammenbruch des Sozialismus ergeben hat. Mit dem Fall der Mauer ist nicht nur ein System gefallen – es ist auch eine Alternative zum Kapitalismus gestorben. Nun sitzen wir also (fast) alle im Zug des ungebremsten Kapitalismus – aussteigen geht nicht mehr – und der Zug rollt mit Höchstgeschwindigkeit auf ein Ziel zu, bei dem wir alle nicht ankommen möchten: Klimakatastrophe, Überbevölkerung, Artensterben, Verseuchung der Böden, Versauerung der Meere, Krieg und Gewalt.

Das Thema ist komplex und die Ansätze von Bergmann sind es auch – daher gebe ich hier nur einen kleinen Ausschnitt wieder und empfehle sehr, die Originale zu lesen. Einer der beeindruckendsten Punkte war für mich Bergmanns Verständnis von Arbeit. Arbeit ist für ihn nicht zwingend etwas, das den Menschen leiden lässt (obwohl viele das in ihren aktuellen Jobs tun), sondern: Durch Arbeit können wir uns entfalten und ermächtigen. Wer die passende Arbeit für sich gefunden, wer das gefunden hat, was er oder sie wirklich wirklich tun möchte, der oder die kann zur besten Version ihrer selbst werden. Arbeit ist eine Möglichkeit meine eigenen Fähigkeiten kennenzulernen, neue Talente zu entdecken, in Gemeinschaft etwas zu vollbringen, was ich alleine nie geschafft hätte.

Dass Arbeit aktuell von den meisten Menschen eher als „milde Krankheit“ empfunden wird (montags denke ich: ich kann nicht, mittwochs denke ich: okay, die Hälfte hast du schon geschafft und freitags freue ich mich, dass das Drama endlich vorbei ist), hängt laut Bergmann mit dem Lohnarbeitssystem zusammen. Erst das Lohnarbeitssystem hat uns zu Sklaven gemacht, in dem wir gelernt haben, unsere Arbeitskraft gegen Geld einzutauschen. Die Reduzierung und allmähliche Befreiung aus diesem System ist das Ziel von Bergmann. Dies wird möglich, indem wir unsere Bedürfnisse und Wünsche kritisch hinterfragen (Was brauche ich wirklich für ein gutes und glückliches Leben?) und beginnen, einen Großteil der alltäglichen Dinge wieder in Eigenproduktion herzustellen. Damit meint Bergmann nicht das Züchten von Tomaten auf dem Balkon, obwohl das auch schon nicht schlecht ist. Sondern: High-Tech-Eigenproduktion – im wahrsten Sinne von High Tech. Im Buch und auch auf der Website der neuen Arbeit gibt es sehr viele Beispiele, was man mit einer Gruppe von Menschen, mit klugem Design und begrenzten Ressourcen alles selbst herstellen kann: Vom Haus, über das Auto, über Gemeinschaftsgärten bis zu Kontaktlinsen. Gerade die Technik des 3D-Drucks eröffnet hier ungeahnte Möglichkeiten, die in Privathaushalten aktuell noch gar nicht ins Gewicht fallen.

Diese Punkte meine ich, wenn ich von Revolution spreche. Was aktuell unter dem Begriff New Work diskutiert wird, ist absolut relevant und hilft vielen Organisationen, eine menschlichere und zufriedenstellendere Arbeitsweise zu entwickeln – die sich dann oft auch noch in positiven Zahlen widerspiegelt. Dabei sollten wir aber nicht das große Ganze aus dem Blick verlieren und die darüber hinaus gehenden Möglichkeiten, die Bergmanns Konzept der Neuen Arbeit aufzeigt.

Wenn ich heute New Work bei Wikipedia eingebe, lese ich nicht den Artikel von 2017, sondern lande beim Unternehmen Xing – und einem Hinweis auf die Biographie Frithjof Bergmanns. Ich würde mir wünschen, dass wir New Work wieder stärker in den gesellschaftlichen Kontext rücken. Flexible Arbeitszeiten, Kicker und Homeoffice sind auch schön, aber New Work kann noch viel mehr. Es ist ein Ansatz, Gesellschaft und Arbeit umzugestalten und damit aus dem rasenden Zug auszusteigen – will heißen, den Problemen unserer Welt von Klimakrise über Artensterben bis Überbevölkerung etwas entgegenzusetzen. Bergmanns Ansatz ist für mich heute aktueller denn je und er macht mir Hoffnung. Vielleicht ist es doch noch nicht zu spät, eine gesunde und vielfältige Welt für unsere Kinder und die nächsten 10 Generationen nach ihnen zu hinterlassen.

(geschrieben im Mai 2020)

Zum Weiterlesen und Weiterschauen:

Das Grundlagenwerk - spannend und leicht zu lesen: Frithjof Bergmann: Neue Arbeit - neue Kultur. Am besten mit diesem Buch anfangen!


Die philosophische Grundlage zum Grundlagenwerk - nicht ganz so leicht zu lesen: Frithjof Bergmann: Die Freiheit leben


Eine Weiterführung der Gedanken von Bergmann, die mir gut gefallen hat: Markus Väth: Arbeit - Die schönste Nebensache der Welt


Website des Centers of New Work: http://www.neuearbeit-neuekultur.de/


Interview auf Youtube mit Frithjof Bergmann auf der Xing New Work Experience: 2017 und 2018



Kleiner Werbeblock am Rande

Wenn du herausfinden möchtest, was es ist, das du wirklich wirklich tun willst, nehme ich die Herausforderung an. Lass uns gerne in einem gemeinsamen Coaching erkunden, was du in diese Welt tragen möchtest – ob hauptberuflich oder neben deiner Lohnarbeit.